Historiker Alexander Rahr: Russen sind über deutsche Anmaßung verärgert
von Wladislaw Sankin
Viele Jahre arbeitete der russischstämmige deutsche Politexperte Alexander Rahr in verschiedenen Gremien, die zur Aufgabe hatten, die deutsch-russische Verständigung in Politik und Gesellschaft zu vertiefen. Er war Zeuge davon, wie prägend die Aufbruchsstimmung in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre in den deutsch-russischen Beziehungen war. Und er musste zusehen, wie unaufhaltsam sie bis zu dem heutigen Krisenzustand degradierten. In seinem neuen Buch fragt er sich: Sind sie noch zu retten?
Es gibt nicht wenige Bücher, die diesem Thema gewidmet sind, die von den Politikern oder Journalisten der älteren Generation geschrieben sind – zu nennen sind die Bücher von Matthias Platzeck, Wolfgang Gehrke, Gabriele Krone-Schmalz, Wolfgang Bittner und anderen. Aber etwas macht Rahrs Buch so besonders: Sein Werk ist bewusst kritisch verfasst – kritisch gegenüber Deutschland und seiner politischen und medialen Klasse, die die Geschicke des Landes bestimmt.
Seine Haltung teilt der Autor bereits im Buchtitel mit: "Anmaßung: Wie DEUTSCHLAND sein Ansehen bei den RUSSEN verspielt". Kritik dient aber einem guten Zweck. "Das vorliegende Buch ist ein Schrei des Verzweifelten: Rettet die deutsch-russischen Beziehungen! Gerade darum ist es wichtig, den russischen Blick auf Deutschland ernsthaft zu prüfen", schreibt Rahr in der Einführung.
Gewiss, in einem Konflikt ist es wichtig, beide Seiten mit ihren Wahrheiten anzuhören. Dass die deutsch-russischen Beziehungen derzeit konfrontativ sind, steht außer Frage, genauso wie die Tatsache, dass beide Parteien Mitschuld daran tragen. "Sowohl die russische als auch die deutsche Seite schleppen wegen der gegenseitigen hohen Erwartungshaltung ihre Enttäuschungen mit sich herum", schreibt Krone-Schmalz im Vorwort zum Buch.
Rahr stellt aber fest, dass russische Stimmen in Deutschland kaum Beachtung finden, wenn sie nicht aus dem Lager der Putin-Gegner kommen. "Standardwerke, wie Deutsche die Russen sehen, füllen hierzulande ganze Bibliotheken. Jedes Jahr erscheint darüber ein neues Buch auf dem deutschen Markt. Weitaus weniger bekannt ist, welche Ansprüche die Russen an die Deutschen stellen."
Der Autor gab in Russland eine informelle Meinungsstudie in Auftrag, und im ersten Kapitel kommen politisch aktiven junge russische Fachleute zu Wort – Mitglieder des Jugendparlaments. Bereits hier offenbaren sich die Abgründe der Resignation bezüglich der Deutschen. "Wir sind heute gezwungen, über das Negative zu sprechen", sagt die Beamtin Alexandra. "Die Deutschen halten uns Russen nicht für ebenbürtig", beschwert sich der Jungunternehmer Andrej. Ein Wirtschaftsexperte, der ebenfalls Andrej heißt, schlägt in gleiche Kerbe:
"Bei Themen wie Sport, Tourismus und Beruf kommen wir zusammen, solange die Deutschen nicht anfangen, den 'Lehrerton' aufzusetzen und aufrichtig so zu tun, als ob sie dazu das Recht hätten. Russen ist eine solche Arroganz fremd, obwohl Russland sich mit seinen Erfolgen nicht zu verstecken braucht. Belehrungen finden in Russland nicht statt."
Diese Beschwerde wird sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch ziehen, bis eine der Protagonisten, die später im Buch noch ausführlicher zu Wort kommen, die Problematik als deutschen "moralischen Fundamentalismus" bezeichnet und folgendermaßen auf den Punkt bringt:
"Russen werden wachsam, wenn Deutsche zu ihnen über die Universalität ihrer Werte predigen und den westlichen Liberalismus als einzig tragbares Gesellschaftsmodell der Welt propagieren. Diese Art von Fundamentalismus unterscheidet sich aus Sicht mancher Russen nicht von dem Fanatismus, mit dem Deutsche früher die Welt 'beglücken' wollten und in Wirklichkeit die menschliche Zivilisation fast ruinierten. Die Russen wollen nicht schon wieder mit der politischen Parole aus dem alten Gedicht von Emanuel Geibel 'Am deutschen Wesen mag die Welt genesen' konfrontiert werden", sagte die Meinungsforscherin Ewgenia.
Danach kommen in Berlin lebende Mitglieder der russischen Community aus mehreren Generationen zu Wort. Eine Sozialpsychologin konnte in ihrem Coaching-Zentrum mitten in der Corona-Krise mehr als ein Dutzend Probanden für eine Umfrage finden. Diese Menschen berichten aus ihrer Perspektive – oft Negatives wie Diskriminierung in der Schule wegen abweichender politischer Meinungen oder interkulturelle Probleme am Arbeitsplatz oder in der Ehe.
Auch deutsche Medien werden kritisiert: "In den russischen Medien werden deutsche Persönlichkeiten niemals auf solche Weise beleidigt und dämonisiert wie russische Politiker in den deutschen Medien." Die Gattin eines deutschen Diplomaten beschwert sich, dass ihrem Mann, weil er mit einer Russin verheiratet ist, Karrierewege verschlossen bleiben.
Es wird aber auch über Positives berichtet – wie über die deutsche Religionsfreiheit, aufgrund derer Deutschland russischen Orthodoxen nach der Oktoberrevolution Exil anbot. "Ohne unsere Verehrung und Lobpreisung und ohne Fürbitten wird der Himmel über Deutschland verschlossen bleiben", sagte ein Priester.
Danach dokumentiert der Autor Meinungen weiterer Protagonisten – einer Konfliktforschrerin, eines Diplomaten, einer Meinungforscherin, eines "Patrioten", eines Wirtschaftsvertreters und "Deutschlandverstehers" und eines Wissenschaftlers, der sich als "interkultureller Kämpfer" sieht. Eine intellektuelle Achterbahn erwartet hier den Leser – er steigt mit dem Autor hinab in die Tiefen der wechselvollen deutsch-russischen Geschichte, analysiert politische Erfolge und Misserfolge der letzten drei Jahrzehnte und stellt Modelle für die Zukunft ein – z. B. was passierte, wenn die Grünen bald Teil der Regierung wären oder womöglich sogar den Kanzler stellten.
"Bei aller Missgunst gegenüber den Deutschen im Russischen Reich wurden die Deutschen bewundert – für ihre Philosophie, Wissenschaft, Kultur und Ingeneurskunst", stellt eine Soziologin fest. Es wird im Buch immer wieder darauf hingewiesen, dass auch jetzt trotz der ungeheuerlichen deutschen Verbrechen gegen die Bevölkerung der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges das Image Deutschlands in Russland sehr positiv ist. Demgegenüber stellt die Meinungsforscherin fest:
"Die Russen hatten den glühenden Hass, der sich zu bestimmten Momenten im Westen gegen sie aufgestaut hatte und dann propagandistisch umgesetzt wurde, unterschätzt."
Der Leser wird Zeuge des Netzwerkens bei diplomatischen Empfängen und kann dabei flammenden Reden der russischen Diplomaten vor deutschen Politikern mit Sektglas in der Hand lauschen: "Russland habe Deutschland die Wiedervereinigung geschenkt, warum unterstütze Deutschland nicht die Idee der Wiedervereinigung Russlands mit den Bruderländern Ukraine und Belarus?"
Er wird den Zoom-Konferenzen während der Pandemie beiwohnen, bei denen hochrangige Wirtschaftsvertreter aus beiden Ländern über das Schicksal der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen offen und ehrlich diskutieren. Einer der Teilnehmer beklagt: "Besorgnisse der russischen Mittelständler, dass Deutschland für sie nicht mehr der ideale Investitionsstandort ist. Deutsche Banken drängen ihre russischen Kunden dazu, ihre Konten zu schließen, werfen sie vor die Tür." Der Moderator berichtet, dass sich in Russland trotz allem eine unaufhaltsame Enttäuschung von Deutschland ausbreitet. "Warum mögen die Deutschen heute die Franzosen, Amerikaner und Chinesen mehr als uns?", beklagt sich der russische "Deutschlandversteher" bitter.
"Wir wissen, dass man mit Russophobie in Deutschland heute Geld verdient."
Diejenigen, die den Schreibstil Rahrs kennen, werden wahrscheinlich den Eindruck nicht los, dass die russischen Protagonisten im seinem Buch nichts anderes sind als die Masche eines Schriftstellers, um den Leser auf diese Weise mit verschiedenen Facetten seines Weltbildes und seiner einzigartigen Berufserfahrung als Brückenbauer zwischen beiden Ländern zu konfrontieren – zu gut informiert und wortgewandt kommen im Buch die russischen Deutschlandkenner daher.
"Die Personen sind echt, und deren Meinungen sind korrekt wiedergegeben, alle beschriebene Szenen fanden im realen Leben statt", versichert Rahr im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen. Sie seien aber anonymisiert worden, sonst hätte das Buch nicht so schnell zustande kommen können. "Die Autorisierung der Zitate ist ein sehr mühsamer Prozess, er würde die Herausgabe des Buches um viele Monaten verzögern." Dem Autor war es aber wichtig, dass das Buch jetzt erscheint. Er denkt immer noch, er könne als Fürsprecher guter deutsch-russischer Beziehungen die öffentliche Meinung in Deutschland beeinflussen.
Die Chancen dafür stehen aber schlecht. Über sein letztes Buch – den Politthriller "2054 – Putin decodiert" wurde kaum berichtet, obwohl Rahr seit vielen Jahren Gast Polit-Talkshows im deutschen Fernsehen und ist damit dem politisch interessierten Publikum durchaus bekannt ist. Auch jetzt rechnet Rahr nicht mit einer Rezension in den großen Medien.
Der Autor der ersten deutschen Politbiografie des russischen Präsidenten "Der Deutsche im Kreml" fühlt sich zunehmend ausgegrenzt, denn wie er und seine Protagonisten in seinem Buch beklagen, habe Deutschland Russland abgeschrieben und stelle sich darauf ein, ein Europa ohne Russland zu bauen. Deswegen ertönen gegenwärtig nur Vorwürfe gegen Russland, gegenläufige Meinungen werden unterdrückt.
Europa habe es versäumt, Russland nach dem Ende des Kalten Krieges, das auch Niederlage der Sowjetunion im Wettbewerb der Systeme bedeutete, einen ehrwürdigen Platz zu bieten – wie dies mit dem besiegten Frankreich nach dem Ende der Napoleonischen Kriege der Fall gewesen sei, heißt es in einer der zahlreichen historischen Parallelen des Buches. Stattdessen würden die oft unerklärlichen und emotional hochgeladenen Ressentiments der Führungseliten in Polen und im Baltikum gegenüber Russland zum Leitsatz europäischen Politik.
"Die deutsche Aussöhnung mit einem Land wie Polen hätte nicht auf Kosten der guten Beziehungen zu Russland gehen dürfen! So aber hat Deutschland die Russophobie der Polen übernommen", sagt russische Meinungsforscherin.
"Es kann nicht sein, dass die Mittelosteuropäer ihren Opfermythos aus dem 20. Jahrhundert ständig pflegen und Deutschland verdächtigen, mit Russland über ihren Köpfen zu verhandeln. Große Länder leiden oft am Komplex des großen Bruders. Aber nicht minder schlimm ist der Komplex des kleinen Bruders. Deutschland spricht Russland eine Einflusszone ab. Ist die NATO- und EU-Erweiterung etwa keine Errichtung einer westlichen Einflusszone?", bekräftigt ein weiterer russischer Wissenschaftler und Brückenbauer nach Westen. Aber gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?
Auch hier lässt Rahr seine russischen Protagonisten als Vorschlaggeber sprechen: "Europa muss gegen äußere Bedrohungen ankämpfen: Ökologie, Terrorismus, Pandemien, Massenmigration, Welternährung und Asiens Vormachtstellung – das sind die Schlüsselthemen. Dafür braucht Europa völlig andere Allianzen und eine andere Politik. (…) Die Bundesrepublik muss die osteuropäischen Nachbarstaaten davon überzeugen, dass ein Streit mit Russland den Frieden auf dem gesamten Kontinent gefährdet."
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