Meinung

Der NATO-Schreiber und die "Lumpenpazifisten"

Klar ist: Alles, was nicht auf Linie ist, muss verunglimpft werden. Nur macht die Linie selbst mittlerweile keinen Sinn mehr. Man muss schon geistiger Kontorsionist, vulgo Schlangenmensch, sein, wie das Beispiel eines Kommentars in der Welt zeigt.
Der NATO-Schreiber und die "Lumpenpazifisten"Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO

Von Dagmar Henn

Es wird zunehmend schwerer, den Gedankengängen in Veröffentlichungen deutscher Medien zu folgen. Das ist jetzt nicht metaphorisch gemeint. Sie entbehren jedweder Logik. Wie kommt es zu dieser Denkweise? Kann man überhaupt noch Ursache und Folge oder auch nur Groß und Klein auseinanderhalten, wenn man seine Tage damit verbringt, so etwas zu schreiben?

Um seine Haltung deutschen Friedensdemonstranten gegenüber absolut unverkennbar zu machen, nutzte der Welt-Kommentator Clemens Wergin sogar einen Neologismus, der, wie Twitter-Kommentatoren zu Recht anmerkten, aus der Feder eines Julius Streicher stammen könnte: "Lumpenpazifisten." Allerdings ist er Zweitnutzer dieser sprachlichen Entgleisung; sie fand sich bereits im April vergangenen Jahres in einem Kommentar von Sascha Lobo zu den Ostermärschen. Aber die beiden Kriegstreiber werden sich sicher noch über die Tantiemen einig.

Wergin hat eine gründliche transatlantische Dressur hinter sich, verbrachte einige Jahre bei der Chicago Tribune und darf sogar in der New York Times kommentieren.

Die Überschrift ist so deutlich wie verworren: "Chinas Friedensplan: Putin will nicht verhandeln – das müssen jetzt auch deutsche Lumpenpazifisten kapieren". Also eigentlich sollte man jetzt Aussagen zu dem erwähnten chinesischen Vorschlag erwarten, statt ausgiebiger Beschimpfungen jenes Teils des deutschen Publikums, das nicht gänzlich auf NATO-Linie eingeschworen ist, aber der Einstieg in die Überschrift bleibt eine unerfüllte Erwartung. Denn es wird nicht wirklich etwas über den chinesischen Vorschlag gesagt; aber man kann ihn ja auf der Seite des chinesischen Außenministeriums nachlesen.

"Russlandfreundlich" sei der Plan, urteilt Wergin, denn "schließlich sah dieser Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen vor – und ohne explizit einen russischen Abzug von ukrainischem Staatsgebiet zu fordern." Und schon sind wir mittendrin im Problem der Logik.

Wergin scheint sich nicht darüber klar zu sein, was ein Krieg ist, und in der Folge dessen begreift er auch nicht, was Friedensverhandlungen sind. Ein Krieg ist die Klärung einer politischen Frage mit den Mitteln materieller Gewalt. In der Logik des Krieges gibt es Sieg oder Niederlage. Für denjenigen, der die Niederlage erleidet, bleibt nur die Kapitulation, also das Strecken der Waffen. Eine Kapitulation ist keine Friedensverhandlung. Diese nüchterne materielle Qualität der militärischen Auseinandersetzung erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist die erste Voraussetzung dafür, die Logik des Krieges auch wieder verlassen zu können.

Es ist einer der Tricks, mit denen dieses logikwidrige Geschreibe verkauft wird, die Vorstellung, die mit dem Begriff "Friedensverhandlung" verknüpft wird, nur negativ zu definieren. Wenn man sie positiv schreibt, wird schließlich sofort klar, wo der Wurm steckt, oder eher der Lindwurm. Die Bedingung für "Friedensverhandlungen" wäre der "russische Abzug von ukrainischem Staatsgebiet".

Wobei, das macht es besonders lustig, nach russischem Recht gar keine russischen Truppen auf ukrainischem Staatsgebiet stehen. Weil die vier Regionen Teil des russischen Staatsgebiets sind. Und natürlich muss man, um Wergins Wahn in voller Blüte zu begreifen, noch hinzufügen, dass er auch noch die Krim als ukrainisches Staatsgebiet bezeichnen würde. Selbst das Pentagon hat inzwischen begriffen, dass es die Krim unter keinen Umständen bekommen wird; aber deutsche Kriegspropagandisten und die Realität, das ist ein, sagen wir einmal, etwas gespanntes Verhältnis.

Doch zurück zur Logik des Krieges. Solange sie aktiv ist, und das ist sie mindestens bis zum Abschluss eines Waffenstillstands, entscheidet sich ganz simpel, wer wem einen Rückzug vorschreiben kann: der Sieger dem Verlierer. Krieg richtet sich nicht danach, wer seine Wünsche und Vorstellungen lauter in die Welt brüllt, die Bilanz wird auf dem Schlachtfeld gezogen, nicht in den Redaktionsstuben. Und nach dieser Bilanz ist nicht nur die Ukraine, sondern die NATO dabei, zu verlieren.

"Chinas Plan zielte darauf ab, den Konflikt unter den gegenwärtigen Frontverläufen einzufrieren, was Moskau die Möglichkeit geben würde, sein dezimiertes Militär wieder aufzubauen und dann in einigen Jahren einen neuen Anlauf zur Eroberung der Ukraine zu unternehmen."

Wenn es nicht so durch und durch sinnlos und barbarisch wäre, wie der Westen die ukrainischen Truppen opfert, dann wäre diese Formulierung erheiternd. Denn es ist nicht das russische Militär, das dezimiert ist und wieder aufgebaut werden muss. Der weit überwiegende Teil dieses Militärs befindet sich weit von jeder Kampfhandlung entfernt in Russland; deshalb nennt sich das militärische Sonderoperation und nicht Krieg. Für das ukrainische Militär ist die Formulierung dezimiert allerdings untertrieben, denn die Verluste liegen weit höher als ein Zehntel. In russischen Kanälen und bei nüchternen westlichen Analysten ist längst davon die Rede, dass die ukrainische Armee bereits zweimal im vergangenen Jahr fast völlig aufgerieben wurde; dass, was jetzt an der Front steht, schon der dritte Aufguss ist, unter Einschluss zahlreicher Söldner.

Wobei selbst das ukrainische Militär des Frühjahrs 2022 nicht mehr das Original war, das 2014 den Krieg im Donbass begann, denn auch die Kessel im Herbst 2014 und bei Debalzewo im Frühjahr 2015 waren ausgesprochen verlustreich.

Es gibt einige etwas vernünftigere Stimmen im Westen, die zumindest die Realität wahrzunehmen bereit sind, wie das Papier der RAND-Corporation vor einigen Wochen. Darin war explizit die Rede von Verhandlungen auf Grundlage des jetzigen Frontverlaufes. Aber RAND ist eine Einrichtung, die vor allem für das Pentagon arbeitet, das natürlich Truppen, Waffen und Munition zählt und das weiß, dass die Entscheidung auf dem Schlachtfeld zählt.

Wergin fordert, wenn auch durch seine Negativformulierung getarnt, die Kapitulation Russlands als Voraussetzung dessen, was er dann als "Friedensverhandlungen" gelten lassen will. Als stünden die NATO-geförderten Truppen, die ja längst nicht mehr wirklich ukrainische sind, vor Moskau, und würden nicht Minderjährige und Alte auf den Straßen fangen, um die aktuelle Frontlinie noch halten zu können. Verglichen damit war selbst die Bezeichnung des Rückzugs der Naziwehrmacht als "Frontbegradigung" noch beinharter Realismus.

Der chinesische Vorschlag ist schlicht ein Ablauf aus dem Lehrbuch. So, wie Kriege durch materielle Gewalt entschieden werden, gibt es auch einen Ablauf für Friedensverhandlungen; schließlich hat die Menschheit mit beidem einige Jahrtausende Erfahrung. Friedensverhandlungen beginnen mit einer Waffenruhe, darauf folgt die Aushandlung eines Waffenstillstands, und dann wird, in der Regel mit mindestens einem neutralen Vermittler, versucht, einen Mittelweg zwischen den Interessen beider Parteien zu finden.

Dass das in jeder Hinsicht den Standards entsprechende chinesische Papier bei Wergin als "russlandfreundlich" klassifiziert wird, belegt nicht nur, dass er von Friedensverhandlungen keine Ahnung hat (er könnte sich mal kundig machen, angefangen mit dem Westfälischen Frieden von 1648), sondern auch, dass er den chinesischen Schachzug nicht verstanden hat, weil er davon ausgeht, dieser Vorschlag sei wirklich an den Westen gerichtet. Das war er nie. Auch das chinesische Außenministerium weiß, dass der Westen von Leuchten des Kalibers Wergin geleitet wird, die sich einbilden, die Ergebnisse eines Krieges nach ihren Wünschen verändern zu können.

Weil er sich auch die russische Reaktion selbst strickt, in der nie eine grundsätzliche Ablehnung von Verhandlungen zu finden war, begreift er – wie seine Washingtoner Vorbilder um Nuland und Co. – nicht einmal, dass er mit beiden Füßen in die Falle getappt ist. Denn sie alle belegen mit diesem wahnhaften Gewäsch, Russland müsse seine Truppen zurückziehen, nur, dass der kollektive Westen so wenig Interesse an einem Frieden hat, dass er ihn selbst zu einem Zeitpunkt zurückweist, an dem er ihn bereits suchen müsste; und auch Wergin begreift nicht, dass der chinesische Vorschlag so lehrbuchmäßig ist, weil er sich an ein Publikum außerhalb des Westens richtet, das sehr wohl noch weiß, wie Friedensverhandlungen funktionieren; ein Publikum, das die westliche Ablehnung zur Kenntnis nimmt.

Was noch nicht alles ist. Denn der chinesische Vorschlag war nicht nur eine Demonstration. Wenn man ihn zusammen mit der scharfen Anklage gegen die US-Politik liest, die einige Tage davor veröffentlicht wurde, ergibt sich etwas anderes. Die eindeutige Reaktion des Westens verleiht China nun die Möglichkeit, frei zu agieren, ohne die eigenen rechtlichen Maßstäbe zu verletzen. Wären die Neocons nicht die Neocons, hätten sie das durchschaut und zumindest Gutwilligkeit geheuchelt. Wie man an Wergins Beispiel sehen kann, scheitern die wahren Gläubigen schon daran, China als Akteur ernst zu nehmen.

Natürlich fehlt jede Vorgeschichte bei Wergin, und auch die Verhandlungen in Istanbul vor einem Jahr scheinen nie stattgefunden zu haben: "Nichts deutete in den vergangenen Monaten darauf hin, dass Russland bereit wäre für eine Verhandlungslösung zu akzeptablen Bedingungen." Wobei natürlich auch hier der Trug am Werk ist, denn "akzeptable Bedingungen" übersetzt sich eben immer in das, was unter keinen Umständen zu haben ist, in eine Kapitulation Russlands. Das, was lehrbuchmäßig ein Weg zum Frieden ist, Verhandlungen zum Interessensausgleich, wäre im vergangenen März zu haben gewesen; auch im Dezember davor auf Grundlage des russischen Vorschlags, oder in den Jahren davor durch eine Umsetzung der Minsker Vereinbarungen; und wieder und wieder war es der Westen, die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, der, in der festen Überzeugung, er hätte keinerlei Kompromisse nötig, diese Wege ausgeschlagen hat.

Nur, dass die Arroganz, die Herrn Wergin aus jedem Knopfloch rinnt, in der wirklichen Welt keine Grundlage mehr hat. Die "akzeptablen Bedingungen", die sich in allerlei Wunschträume vom Regimechange in Moskau bis hin zur Balkanisierung Russlands übersetzen lassen, haben sich längst als Illusionen erwiesen, und dennoch wird erbittert an ihnen festgehalten; jeder, der Wergins Artikel liest, kann nachvollziehen, warum man in Moskau schlicht kein Gegenüber sieht, mit dem man verhandeln könnte. Nichts anderes besagt auch die Aussage des Kremlsprechers Dmitri Peskow, die Wergin zitiert: "Im Moment sehen wir keine Voraussetzungen dafür, dass diese ganze Geschichte friedlich ausgeht." Das ist mitnichten eine Aussage, man selbst wolle nicht verhandeln, wie das Wergin behauptet, sondern eine Feststellung der objektiven – und gerade von Wergin selbst belegten – Tatsache, dass da niemand ist, mit dem man verhandeln könne.

So verquer seine Wahrnehmung der realen Machtverhältnisse, so verquer ist auch seine Haltung zu den Friedensdemonstranten in Berlin. Sie seien "russlandfreundliche, angebliche Friedensfreunde", die auf "naive Weise" fordern, "endlich wieder auf Diplomatie zu setzen" – ein Fach, von dem Wergin sichtlich rein gar nichts versteht, sie betrieben "Appeasement-Politik", seien "Lumpenpazifisten".

Nun, für den amerikanischen Imperialismus blind zu sein kommt wohl spätestens mit einer Tätigkeit für die New York Times. Weshalb Wergin natürlich von Putins, nicht von Bidens imperialistischem Wahn schreibt, und meint, der müsse "mit Waffenlieferungen an Kiew und einem ukrainischen Sieg beendet werden." Den wird er allerdings in einem Paralleluniversum suchen müssen. Um Bidens imperialistischen Wahn kümmert sich derzeit die russische Armee.

Wie irrwitzig nicht nur Wergin, sondern das gesamte politische Denken in Deutschland ist, zeigt sich nicht nur daran, dass auch das gewaltige Menetekel Nord Stream in diesem Kommentar nicht vorkommt, sondern auch darin, dass Wergins Beschimpfungen durch die Einschätzung ausgelöst werden, Friedensverhandlungen wären ein Vorteil für Russland. So verrannt, wie er ist, hält er vermutlich auch die RAND-Corporation für einen Hort russischer Agenten.

Aber in der bösen Wirklichkeit wären tatsächlich sofortige Verhandlungen die einzige Rettung für die Kiewer Regierung, und die einzige Option für den gesammelten Westen, eine offen sichtbare Niederlage noch zu umgehen. Sie wären die mögliche Rettung für all die ukrainischen Soldaten, die noch in den Fleischwolf geworfen werden sollen, und sie würden vielleicht, aber leider nur vielleicht, eine Chance eröffnen, die deutsche Politik aus dem Würgegriff der US-Interessen zu befreien. Alles unterhalb eines sofortigen Austritts aus der NATO und der Forderung nach sofortigem Abzug der US-Truppen bleibt noch hinter dem zurück, was schon allein in deutschem Interesse geboten wäre; wie verzerrt die gesamte politische Debatte ist, zeigt sich schon daran, dass die Forderungen der Friedensdemonstration weit dahinter zurückbleiben.

Wenn aber jemand, der vorsichtig den selbst aus dem Pentagon schon vernommenen Wunsch nach Friedensverhandlungen artikuliert, von Kreaturen wie Wergin zum Lumpenpazifisten erklärt wird, was wäre dann die angemessene Bezeichnung für solche wie ihn?

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