Meinung

Genozid-Prozess in Den Haag und deutsche Werte: Was bleibt vom Einheitsversprechen?

Gut dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung wurde Deutschland wegen Beihilfe zum Genozid angeklagt. Alle Befürchtungen der Gegner der Einheit sind wahr geworden. Mit seinem Konfrontationskurs gegen Russland vergrault Deutschland den einzigen, vorbehaltlosen Unterstützer eines geeinten Deutschlands.
Genozid-Prozess in Den Haag und deutsche Werte: Was bleibt vom Einheitsversprechen?Quelle: www.globallookpress.com © Charles M. Vella

Von Gert Ewen Ungar

Nicaragua hat Deutschland wegen Beihilfe zum Genozid vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verklagt. Israel geht mit äußerster Brutalität gegen die Menschen in Gaza vor. Das Land beruft sich nach einem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf das Recht auf Selbstverteidigung. Deutschland folgt der Argumentation, obwohl es sich bei dem Terroranschlag nicht um einen äußeren Angriff auf den Staat Israel, sondern um einen Akt des inländischen Widerstands handelte. Israel hält palästinensische Gebiete illegal besetzt. Mit der Begründung des Rechts auf Selbstverteidigung zerstört Israel in Gaza zivile Infrastruktur, setzt Hunger als Waffe ein und hat inzwischen mehr als 33.000 Menschen getötet, der Großteil davon Frauen und Kinder. Deutschland liefert Israel Waffen und bekennt sich zu einer bedingunglosen Solidarität. In den Jahren 2022 und 2023 war Deutschland für knapp die Hälfte aller Waffenimporte Israels verantwortlich.

Deutschland ist daher nun wegen Beihilfe zu Völkermord vor dem höchsten UN-Gericht angeklagt. Das offizielle Deutschland lässt dieser bedrückende Umstand weitgehend kalt. Die großen deutschen Medien wiegeln ab. Die Tagesschau meint allem Anschein nach, der Hinweis, Nicaragua sei ein autoritär geführtes Land, reiche zur Entkräftung der Vorwürfe. Der Tagesspiegel lässt einen Experten zu Wort kommen, der eine Verbindung zu Russland behauptet und darin die eigentliche Motivation für die Klage Nicaraguas sieht. Das Auswärtige Amt meldet auf X, Deutschland könne gar nicht gegen das Völkerrecht verstoßen, weil sich Deutschland für das Völkerrecht einsetze. Nachrichten aus dem Land der Dichter und Denker.

verstoßen, weil sich Deutschland für das Völkerrecht einsetzt.

In ihrer Rede vor dem höchsten UN-Gericht trägt die deutsche Diplomatin Tania Freiin von Uslar-Gleichen wenig an Substanz und vor allem wenig an Entlastendem vor. Sie wiederholt im Kern, Deutschland würde sich zum Völkerrecht bekennen. Zudem habe Israel das Recht auf Selbstverteidigung. Ohne dem Urteil des Gerichts vorgreifen zu wollen, ist festzuhalten, dass Deutschland keine entlastenden Argumente vorgetragen hat.

Die Klage gegen Deutschland soll für einen Moment Anlass sein, darüber nachzudenken, was etwas mehr als dreißig Jahre Wiedervereinigung der Welt an Vorteilen gebracht haben. Im Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten bekennt sich das geeinte Deutschland dazu, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgeht. Frieden dauerhaft in Europa zu sichern, ist das Ziel, das geopolitisch mit der deutschen Einigung verfolgt wurde. Stattdessen ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt und Deutschland hat daran maßgeblichen Anteil, auch wenn man das im politischen und medialen Establishment in Deutschland vehement leugnet. Deutschland ist an der Zielsetzung der Wiedervereinigung nicht nur gescheitert, sondern hat sie aktiv sabotiert.

Deutschland hat sich 1999 am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt. An der Eskalation hin zum Krieg in der Ukraine hatte Deutschland mit der Sabotage von Minsk 2 maßgeblichen Anteil. Berlin setzt in diesem Konflikt ausschließlich auf eine militärische Lösung, lehnt Diplomatie ab und hält am den Krieg auslösenden Grund fest: der Aufnahme der Ukraine in die NATO. Nun kommt zu alledem die Unterstützung von Völkermord hinzu. 

Sowohl in der Ukraine als auch in Israel unterstützt die Bundesregierung rechte Regime, die sich zu ihrer Genozid-Absicht offen bekennen. Regelmäßig erkennt Deutschland legitime, gewählte Regierungen nicht an, wenn deren politische Agenda nicht mit der Ideologie Berlins übereinstimmt. Um genehme Regime an die Macht zu bringen, mischt sich Berlin seit langem in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein und verstößt mit Einmischung und Nichtanerkennung gegen Grundprinzipien der UN-Charta. Deutschland stationiert inzwischen Truppen im Baltikum in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze – ein offener Vertragsbruch. Diese Liste deutscher Verstöße gegen internationales Recht und die vertragliche Grundlage der Einheit ließe sich noch lange fortsetzen. 

Klar geworden sollte sein: Mit jeder ihrer Handlungen verstößt die Bundesregierung gegen den Geist und den Wortlaut des Einheitsvertrags und andere bestehende internationale Verträge. Deutschland dient nicht dem Frieden, sondern ist erneut ein hoch aggressiver Staat, der nach Herrschaft und Dominanz strebt, sich dabei an Recht und internationale Vereinbarungen nicht gebunden fühlt. Die heute von Deutschland vor dem IGH vorgetragene Behauptung, das Land habe aus seiner Geschichte gelernt, steht im eklatanten Widerspruch zum politischen Handeln der Bundesregierung nach innen wie nach außen.

Denn auch innenpolitisch herrscht in Deutschland ein zunehmend repressives Klima. Eine breite Koalition aus etablierten Parteien will gemeinsam mit den ebenso etablierten Medien die Opposition verbieten, setzt auf Zensur, Einschränkung von Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit. Ziel ist die Gleichschaltung der Narrative. Willkürliche Setzungen werden den Deutschen als vermeintlich internationaler Konsens vorgegaukelt. Dass Russland die Ukraine anlasslos überfallen hat, ist eine dieser Setzungen, die sich nur dann behaupten lassen, wenn andere, gut begründete Sichtweisen auf den Ukraine-Konflikt aus dem Diskurs ausgeschlossen werden.

Mit einem umfassenden System aus Zensur, zentraler Koordination der Medien und öffentlicher Diffamierung anderer Positionen ist eine Verengung des Diskurses in Deutschland erneut gelungen. Ein Nebeneffekt dieser Zensur ist, dass politische Talkshows und Diskussionen und in der Folge auch Unterhaltungen mit Deutschen, die sich für politisch gebildet sowie gut informiert halten, oftmals überaus provinziell, geradezu hinterwäldlerisch anmuten. Die Meinung deutscher Medienkonsumenten muss zwangsläufig grob, undifferenziert und in bloßem Schwarz-Weiß steckenbleiben. Sie verfügen über keine anderen Informationen. Deutschland ist erneut im Zustand geistiger Schlichtheit angekommen. 

Wovor man in Deutschland gut behütet wird, ist der Blick von außen. Das Ausland ist schockiert. Namibia, einstmals deutsche Kolonie und als Nation Opfer von deutschem Völkermord, ist entsetzt darüber, dass Deutschland erneut Genozid unterstützt. Von Mitgliedern des UN-Menschenrechtsrates wird der in Deutschland herrschende Rassismus und die soziale Ungleichheit verurteilt. 

Dass von Deutschland kein noch so hauchzarter Impuls für eine Verhandlungslösung in der Ukraine kommt, nimmt man mit großer Sorge gerade angesichts der deutschen Geschichte und der mit dem Einheitsvertrag eingegangen Verpflichtung, einen Beitrag zum Frieden zu leisten, weltweit zur Kenntnis. Nur in Deutschland nimmt man nicht zur Kenntnis, dass der deutsche Vertragsbruch überall zur Kenntnis gelangt.

Dort ergeht man sich stattdessen in bauernschlauer Argumentation, warum man durch Waffenlieferungen nicht zur Kriegspartei wird und trotz der Ablehnung von Diplomatie und einer damit verbundenen Verlängerung des Krieges mit immer höheren Opferzahlen auf der Seite des moralisch Guten steht. Das tut Deutschland nach internationaler Auffassung längst nicht mehr. Die Klage vor dem IGH ist Ausdruck dieses geänderten Blicks auf das Land. Nicaragua hat breite Unterstützung für die Klage gegen Deutschland. Zu einer Unterstützung Deutschlands hat sich hingegen bisher kein Land bekannt. 

Faktisch werden dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung die schlimmsten Befürchtungen ihrer Gegner wahr. Großbritannien fürchtete sich vor einem wiedererstarkten Deutschland ebenso wie Frankreich. Margaret Thatcher glaubte nicht daran, dass Deutschland die richtigen Lehre aus seiner eigenen Geschichte gezogen hat. Sie hatte recht. Auch Frankreich blickte skeptisch auf die Einheit. Den USA wiederum ist die Wirtschaftsmacht Deutschlands ein Dorn im Auge.

Das einzige Land, dass bisher vorbehaltlos zur deutschen Einigung stand, war Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Diesen Rückhalt verspielt Deutschland gerade gründlich. In Russland wird diskutiert, ob und inwieweit der 2+4-Vertrag noch Gültigkeit besitzt. 

In Europa werden die Grenzen neu gezogen. Das ist eine Tatsache. Über diesen Prozess kann man sich moralisch empören, er ist aber Resultat der Preisgabe des Konzepts der kollektiven Sicherheit. An der Erosion des Konzepts war und ist Deutschland mit seiner Missachtung des Einheitsvertrages aktiv beteiligt. Der Prozess der Neuordnung Europas wird so lange anhalten, bis eine neue, stabile Ordnung gefunden wurde. Dass Deutschland hiervon verschont bleibt, ist angesichts der jüngsten Vergangenheit nicht selbstverständlich. Die vergangenen dreißig Jahre liefern eine ganze Kette von Argumenten, warum Europa mit einem geteilten Deutschland ein besserer, ein sicherer und vor allem friedlicherer Ort wäre. 

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